Bild: © Joseph Altheimer (1860-1913) [Public domain], via Wikimedia Commons
Mittwochnachmittag in einem Hospiz in einer deutschen Großstadt:
Wir besuchen die 83-jährige, sehr kranke Großtante im Hospiz. Ein schöner, freundlicher Ort, der im ersten Augenblick gar nicht an Tod und Sterben erinnert. Die Großtante sitzt – ein gewohnter Anblick – im Sessel und trinkt einen Tee.
„Warum trinkst du aus einer Schnabeltasse für Babys?“, fragt mein 6-jähriger Sohn. „Damit ich nicht kleckere“, sagt die Großtante. „Kleckert man wie ein Baby, wenn man alt ist?“ Ein Lächeln huscht über das Gesicht der Großtante: „Ja, ein wenig ist es schon so. Wenn man alt ist, wird man manchmal wieder hilflos. Bis man nicht mehr da ist.“ Mein Sohn denkt angestrengt nach und fragt schließlich: „Wann bist du denn nicht mehr da?“ „Ich hoffe morgen früh!“
Auf dem Heimweg herrscht einige Zeit Schweigen, wir erledigen noch ein paar Einkäufe. Kurz vor dem Abendbrot kommt sie dann, die Frage: „Mama, du bist doch auch schon alt, stimmt´s?“ Ich packe gerade die Lebensmittel in den Kühlschrank. „Und bist du dann morgen auch nicht mehr da?“ Ich hole erst mal Luft und antworte dann: „Ich hoffe nicht, denn so alt wie die Großtante bin ich ja noch gar nicht.“ Mein Sohn denkt nach: „Und wenn du dann noch älter bist und dann morgen nicht mehr da bist, soll ich dir dann auch vorher die Schnabeltasse mit deinem Lieblingstee bringen? Zu dem Sessel, in dem du dann sitzt?“
„Ja, das wäre schön!“ Mein Sohn nickt und wir decken gemeinsam, friedlich und ganz ohne schwere Gedanken den Abendbrottisch, denn das Wesentliche haben wir ja geklärt.